das Konzept der Dankbarkeit

Heute schick ich mir eine leicht verwunderte Dankeskarte an mich selbst. Da steht drauf, dass ich ziemlich verblüfft bin, weil ich mich dankbar fühle. Einfach so, von innen heraus. Ein verblüffend leichtes Gefühl. Eventuell so leicht, dass es hinter so polterlautschweren Gefühlen wie Wut oder Neid oder Frust bislang keine Wahrnehmungschance hatte.

Dankbar nehme ich also wahr, ich bin dankbar. Auch dafür, dass bei mir zum ersten Mal seit immer eine Orchidee zum zweiten Male blüht.

Das fühlt sich gut an. Es fühlt sich ganz ohne Ironie, ohne Druck, ohne Kalkül, ohne Wut.

Dankbarkeit, dass ist für mich seit frühester Kindheit eine Aufforderung zur Demut, eine Aberkennung meiner Traurigkeit und ein Gefühl von Versagen. Nicht mal zum Dankbar sein reicht es bei mir…

Langsam scheint sich das zu wandeln. Ich erlebe ab und an Momente, in denen ich ein Gefühl von „Ach, das ist gemeint“ habe. Ich atme dann dankbar und in Stille ein und aus. Die Abwesenden, Wut, Verzweiflung und Neid, müssen ja nicht mitbekommen, dass ich spüren kann, dass sie weg sind 😜

Das Konzept von Dankbarkeit ist für mich wie progressive Muskelentspannung. Es bewirkt das komplette Gegenteil von dem, was eigentlich der Plan wäre 😬…. So haben mich Dankbarkeitstagebücher schon mental in den Wahnsinn getrieben und ich bin aus Muskelentspannungssitzungen mit neuen Verspannungen heraus gegangen. Wer schon immer erlebt, dass er aushalten und anspannen muss, der erlebt hier keine Entspannung.

Als Kind hat mich, neben ein bis zwei anderen Sprüchen, besonders das „sei doch mal dankbar, du hast doch so viel“ geprägt. Ich erinnere eine Situation, die da besonders nachhallt. Ich war 11 oder 12 Jahre alt und traurig, weil ich keine Freunde in der Schule hatte. Ich habe nicht so richtig dort hin gepasst, das mit Klassenclown sein versucht auszugleichen und war sehr einsam. Der Spruch meiner Mutter, dass das nicht schlimm sei, weil ich ja meine Familie hätte, hat mich sprachlos gemacht. Sei doch mal dankbar dafür!

Dankbar für einen Ort, an dem ich öfter geschlagen als in den Arm genommen wurde, wo ich allzu oft das Gegenteil von richtig war, wo nur mein Rückzug aufs Zimmer und mein Schreiben mir Sicherheit gegeben haben. Ja. Na klar.

Das war der Zeitpunkt, an dem ich mich emotional noch mehr von daheim abgewandt habe. Mit 16 auszuziehen und die Ursprungsfamilie keinen Augenblick zu vermissen ist da wohl ein klares Zeichen.

Unverstandene Dankbarkeit.

Ich reagiere heute noch sehr empfindlich auf Sprüche wie: „sei dankbar, anderen geht es noch schlechter als dir“… Das gehört übrigens direkt gestrichen, das ist ähnlich schlimm wie „stell dich nicht so an, das geht schon, wenn du nur willst“. Für depressive Menschen ist das ein Schlag ins Gesicht. Bei uns ist da kein Gleichgewicht, bei uns ist nur negativ. Und diese Sprüche sind nicht aufbauend, sondern lassen fühlen, wie sehr man doch versagt und wie undankbar man doch ist.

Ich jedenfalls, und meine Dankbarkeit, wir hatten seit Kindheit einen schlechten Start. Ich war tatsächlich meistens undankbar. Weil ich so unglücklich war. Wo Liebe fehlt, kann alles rund um Unglück gut wachsen. Vergleichen, Missgunst, Lästern über andere, Wut und Scham, weil ich zumindest unterbewusst schon wusste, dass das alles in Zusammenhang steht.

Ein Kind, das immer jammert und lamentiert, kann sich vielleicht nicht so gut fühlen und braucht viel bedingungslose Liebe, Nähe, Aufmerksamkeit. Wenn der Akku an der Stelle voll ist, hat der Neid gar keine Chance.

Und ich so, heute? Erlebe zumindest Momente, in denen ich echte Dankbarkeit spüre. Das perlt hoch wie Bitzel in der Cola, erfrischend und ein wenig blubbernd. Da ist diese Leichtigkeit, ein Lächeln, die Freude, und dann kann ich mir sogar vorstellen, was ein Dankbarkeitstagebuch ausmachen kann. Ich habe einfach zu früh damit angefangen, mit so einem Tagebuch. Da wusste ich noch gar nicht, wie sich Dankbarkeit wirklich anfühlt. Gezwungene Dankbarkeit ist gar kein Vergleich dazu!

Dankbarkeit ist Einstellungssache. Vermutlich auch tatsächlich Übungssache. Ich bin heute dankbar, weil ich in die Sauna fahren kann. Ich habe die Zeit dafür. Ich kann mir das finanziell leisten. Und ich kann es mir selbst erlauben. Dass ich mit Bus und Bahn anreise und dass das echt aufwendig ist, stört mich mit diesem Blickwinkel gar nicht.

Das weitet mein Herz. Das Gefühl breitet sich im Körper aus und ganz kurz spüre ich sogar eine diffuse Dankbarkeit für diesen Körper. Der mir treu ist, der bei mir ist, der gesund ist, der fünf Kinder geboren hat…

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