Laufruhe

Gedanken kugeln einfach so in die dafür vorgesehenen Löcher, als hätten sie schon immer gewusst, wohin sie gehören. Klack, klack, klack. Sitzt, passt, ist in Ruhe.

Wie lose Fäden, die auf einmal beschließen, dass man aus ihnen einen schönen Pulli stricken darf. Mit klarem Muster und ohne Laufmaschen.

Wie ein 1000er Puzzle, bei dem alle Teile gelb sind, und man löst es DENNOCH.

Ich habe Einsichten, und sie ruhen tief. Erst vor gut zwei Wochen kam die Einsicht, dass ich jedes Jahr im Sommer rummache und mich depressiv fühle – und es ziemlich sicher auch bin. Alles schwer, vor allem der Schweiß. Alle flirren, lachen und sitzen im Biergarten, nur ich gehe sehr langsamen Schrittes vorüber und überlege, wie es sich wohl anfühlt? In einer solchen Gruppe zu sitzen, lachend, fröhlich, dazugehörend? Oder ist hier die Leichtigkeit auch nur gespielt?

Ich habe jeden Sommer meinen Schaff. Müsste ich in einem südlicheren Land leben, wäre ich vermutlich schon geschmolzen und nicht mehr unter uns. So aber schleppe ich mich durch, beobachte von weitem, wie andere draußen sitzen und es genießen. Und wünsche mir Herbst. Äpfel. Weintrauben. Ernte Dank.

Diese Erkenntnis mit meinen gefühlten Sommerdepressionen habe ich gelesen. Bei mir selbst. Mein Blog hilft mir, zurückzuschauen. Ich lese, wie ich mich gefühlt habe. Ich lese, wie ich wochenlang hoch bin, um wieder in ein Tief zu fallen. Auch, wie ich überlege, was ich eventuell falsch gemacht habe. Mir dünkt, gar nichts. Es ist einfach so.

Ich diagnostiziere mir also selbst eine Sommerdepression. Und ich lese natürlich auch, dass das selten ist. Ja, was seltenes wollte ich schon immer haben!
Ich lese außerdem, dass es oft Menschen betrifft, die eine Bipolare Störung haben. Und da klingelt schon was bei mir, aber nur unterbewusst. Weil, das habe ich schonmal gehört, im Zusammenhang mit mir selbst.

Gestern hat es sich dann ins wache Bewusstsein geschoben. Es geht mir erfreulicherweise seit ein paar Tagen besser, und gestern war ein wirklich wunderbar leichter Tag. Fast schon ein kleines Hoch. In meinen Hochs, da bin ich wer. Da bin ich der Christbaum in Festbeleuchtung. Da bin ich überbordend lebhaft, schnell denkend. Da kann es passieren, dass sogar ich in einem Biergarten sitze und die Anwesenden unterhalte. Manchmal bin ich dann auch ein wenig Oversharing …

Ich habe zwei Therapeuten verschlissen, in meiner bisher längsten depressiven Einheit. Erkrankt Mitte 2017, krank geschrieben im Dezember 2017, war ich Mitte 2020 unter Corona entweder immer noch oder wieder depressiv. Gefühlt war ich erst 2022 halbwegs gesund …

2017 habe ich mit einer Tiefenpsychologin begonnen. Ich habe sie durch Zufall gefunden und sie hat mich akut begleitet – sie hatte zum Glück ganz viel Verhaltenstherapeutische Ideen auf Lager. Aber im Großen und Ganzen – war ich halt akut und überhaupt nicht therapierbar. Immerhin war ich wöchentlich bei jemand, mit dem ich sprechen konnte. Das hat schon geholfen, glaube ich. Ab und an gab es auch Hausaufgaben, die ich einfach nicht erledigt habe. Warum? Ich habe mich überhaupt nicht verbunden gefühlt, nicht mir selbst und auch nicht der Therapeutin. Und ohne eine gewisse Selbstverpflichtung läuft es nunmal nicht.

Danach kam eine Pause – sie hatte eine Langzeittherapie beantragt und wurde abgelehnt. Sie hat in den Antrag geschrieben, dass die Patientin denke, sie habe ADHS. Das war dem Gutachter zu Larifari. Er sagte, ohne Diagnose nix Therapie. Ich war damals gleichzeitig wütend und desinteressiert. Wütend auf meine Therapeutin. Wie kann sie das denn da reinschreiben – weil, das war ja nur meine eigene Idee, was ich haben könne, und es war tatsächlich in keiner Weise diagnostiziert. Desinteressiert war ich, weil ich mit 30mg Escitalopram weggeschossen war. Mich hätte man auch nackt an die Bushaltestelle setzen können. Mir war alles egal. Auch das.

Jedenfalls – lange Pause. Ich musste ein Pause von zwei Jahren vorweisen, bevor ich wieder in Therapie gehen konnte. So ist es vorgesehen. Es war Sommer 2018, als der Antrag abgelehnt wurde. Mitten in der heißen Phase war ich auf einmal ohne therapeutische Unterstützung. Ich weiß noch, dass ich dazu auch mit der Krankenkasse telefonierte und ironisch meinte, nun, ich könne mich ja einfach umbringen, dann wären sie mich auch endlich los …

Immerhin hatte ich zu dem Zeitpunkt einen Psychiater gefunden. Top. Der konnte zumindest helfen, die Formulare für die Reha auszufüllen, die mir dann auch tatsächlich bewilligt wurde. In eine Klinik wollte ich gehen, mit Kind, bitte stationär. Bekommen habe ich ambulant und natürlich ohne Kind. Ende 2018 gings los –

Nach der Reha ging es 2019 sehr langsam aufwärts. Sehr! Langsam! 2020 habe ich meine Weiterbildung begonnen, unter Corona … und eine weitere Therapie gestartet, diesmal direkt bei einem Verhaltenstherapeuten.
2021 der erste Job.
Ende 2022 der nächste Job, der jetzige Job.
Da bin ich noch. Mit dem Therapeuten ist es schon lange aus.

Aus der ersten Begeisterung wurde schnell ein komisches Spiel. Manchmal dachte ich, will der mich eigentlich hopps nehmen? Er wollte in keinem Fall einen Blick auf meine Kindheit werfen, und ich kann ihm das auch nicht vorwerfen – immerhin ist meine Kindheit auch echt keinen Blick wert. Sie ist traurig. Dabei war ich so ein fröhliches, neugieriges und lebensfrohes Kind. Jedenfalls manchmal. Manchmal war ich auch schon früh sehr einsam. Sehr melancholisch. Viel zu nachdenklich für mein Alter. Habe geklaut wie ein Rabe und wurde mehr als einmal bei sexuellen Spielchen erwischt. Aber ich wiederhole mich.

Jedenfalls, diesem Therapeuten habe ich den Verdacht von ADHS auch vorgetragen. Ich hatte mir die Praxis schon dahingehend ausgesucht. Sie hatten unter anderem ein Testzentrum für ADHS. Er hatte genickt, gesagt, dass er mich testen kann – dass er es aber für ziemlich ausgeschlossen halte. Für ihn sei die Sache ziemlich klar, ich sei ein Typ 2. Typ 2 einer bipolaren Störung. Typ 2, weil ich in meinen manischen Phasen die Kontrolle behalte. Jedenfalls weitestgehend.

Was hatte ich früher für sexuelle Phasen! Ich dachte damals, eventuell sei ich nymphoman.

Und was hatte ich für finanzielle Phasen! Ich habe einfach alles ausgegeben, was da war.

Keine Impulskontrolle.

Heute habe ich weder Sex noch Geld. So kanns gehen 😉
Tatsächlich vermisse ich ja viel. Sex gehört nicht dazu. Eventuell stumpft man ab, wenn man zu lange allein ist. Ich weiß es nicht. Mir jedenfalls fehlt momentan nix. Wobei – Geld könnte es schon mehr sein. Es wäre aber vermutlich dennoch zu wenig. Geld war immer zu wenig. Ich kann damit nicht gut umgehen.

Jedenfalls, diese Therapie. Ich hatte immer gehofft, ich finde Lösungen. Dabei kamen meist nur weitere Fragen dazu. Wer bin ich? Warum habe ich fünf Kinder von drei Männern? Bin ich ein guter Mensch? Kann ich unter diesen Voraussetzungen überhaupt ein guter Mensch sein? Warum habe ich so wenige Freunde? Kann ich eine Freundin sein? Warum fühle ich mich einsam, auch, wenn ich mit Bekannten im Café sitze? Warum will ich nur noch allein sein? Warum will niemand mit mir zusammen sein? Warum rede ich eigentlich andauernd über mich? Warum kann ich nicht sein wie alle anderen Menschen auch?

Habe ich Traumata und können wir die auflösen?

Ja und Nein. Er wollte da nicht ran. Zu anstrengend. Nicht zielführend. Wichtiger wäre, dass ich meinen Alltag gut bewältige und lerne, mit mir zurecht zu kommen. Meine Schuldgefühle ablege. Mich werte. Mich besser wahrnehme. Mich besser abgrenze gegen Menschen, die mich ausnutzen oder die meinen Selbstwert noch kleiner machen. Damit waren wir beschäftigt, und das hat er gut begleitet! Ich war einfach noch nicht so weit, wirklich tiefer zu arbeiten. Ob ich es heute bin? Wer weiß das schon – ich bin jedenfalls wieder auf der Suche nach einem Therapieplatz. Ich dachte, um das Thema Trauma weiter zu beleuchten. Aber gerade dünkt mir, dass ich lieber einen Blick auf seine damalige Diagnose werfen sollte. Weil, vielleicht ist die korrekt.

Weil, gerade finden alle Kugeln ganz einfach ins Loch und kommen zur Ruhe. Ich empfinde eine gewisse Laufruhe in der möglichen Diagnose Bipolar, Typ 2.

Alles, was ich lese, passt so sehr. Mehr als bei den anderen Verdächtigen. Mehr als bei ADHS. Mehr als bei Borderline. Mehr als bei einer „normalen“ Depression. Es ist, als habe ich einen neuen Blick gewonnen. Einen, der mir erlaubt, in einer manischen Phase zu registrieren, dass das NICHT normal ist. Dass das ein Teil des Krankheitsbildes ist.

Ich wollte immer etwas Besonderes sein.

Ich wusste immer, dass ich etwas Besonderes bin.

Meine künstlerische Begabung ist ausgeprägt.
Ich fühle mich oft allein, unter zig Menschen.
Ich kann den anderen Menschen mitunter nicht folgen – nicht ihren Ängsten, nicht ihrem Leben, nicht ihren Wünschen.
Ich kreise nur um mich selbst und bin der zentrale Mittelpunkt meines Lebens.
Manchmal bin ich sehr empathisch – um dann wieder gar kein Gefühl für mein Umfeld zu haben.
Mein über mich sprechen, auch hier, und in aller Öffentlichkeit – auch das ist ein Puzzleteil, dass sich jetzt einfügt.

Bisschen wie auf einem Boot bei Wellengang. Es schwankt. Bei mir auch mehrmals täglich. Wer nicht weiß, wie sich diese Extreme anfühlen, wird nicht verstehen, wie ich mich oft fühle. Und ich, kann ich verstehen, wie „normale“ fühlen? Eher nein. Ich kenne nur schnelle, extreme Schwankungen. Eben noch lachend, jetzt schon aggressiv schreiend oder leise weinend. Von jetzt auf gleich. Einfach ist es nicht mit mir – aber es wird besser!

Wenn ich zurückblicke, wie ich war. 2016, 2018, 2020, 2022 – ich lerne stetig dazu, ich stärke meine Resilienz, ich reflektiere mich, ich bin gnadenlos ehrlich mit mir. Auch wenns wehtut. Dennoch fühle ich mich nicht mehr so sehr schuldig. Weil ich keine Schuld habe. Auch wenn ich eine depressive Episode habe, bin ich daran nicht Schuld. Ich bin auch nicht zu schwach. Ich bin einfach nur krank. Und ich habe beschlossen, dass ich in dieser Erkenntnis zur Ruhe komme.

Klack, klack, klack. Alle Kugeln an ihrem Platz. Laufruhe.

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