Jetzt, einen Zahn weniger zeigen. Einen Zahn, der schon mit Anfang 20 auf Missstände hingewiesen hat, dem 2 Liter Cola am Tag einfach nicht bekommen sind, der Schmerzen nicht nur vorgetäuscht hat und der trotz Wurzelbehandlung und Krone kleine Entzündungsherde angefeuert hat.
Besagte Entzündungsherde haben wir heute gleich mit entfernt. Mit dem Zahn.
Ich hoffe, damit erstmal Ruhe zu haben. Um in Ruhe nachzudenken, warum ich wohl mit Anfang 50 schon den zweiten Zahn verloren habe. Auf dieser ungepflegten Reise zu mir selbst. Ob es auch an der schlechten Zahnputzquote lag? Wer mit Cola gurgelt, muss sich vermutlich nicht wundern, wenn ihm vor Schreck alle Zähne ausfallen …
Den ersten Karies hatte ich mit 6 oder 7 Jahren. Pochende Schmerzen, die sich freundlich bewusst in einen Nachmittag schoben, um darauf hinzuweisen, wo die Probleme liegen … An diesem Tag habe ich einen Zahnarzt in den Finger gebissen. Erzählt das Geschichtsbuch. Ich selbst habe keinerlei Erinnerung daran. Erstaunlich, weil, es muss mir wohl nicht so gut gegangen sein auf dem Behandlungsstuhl beim Arzt? Ich erinnere nur, wie sie mich danach bei Opa und Oma im Garten deswegen hopps genommen haben. Ich weiß noch, es war Sommer. Und wir standen in den Himbeeren. Können auch die Brombeeren gewesen sein. Und ein Helikopter flog am Himmel vorüber (kam damals deutlich seltener vor als heute, dass irgendwas am Himmel vorüberflog). Mein großer Bruder hat sich lustig gemacht, der Arzt müsse jetzt ins Krankenhaus, weil ich ihm so doll in den Finger gebissen habe. Oder, schlimmer, die Polizei suche mich jetzt, um mich zur Rechenschaft zu ziehen!
Ich erinnere auch, dass ich Angst bekommen habe an diesem Sommerabend, geweint habe und mich verstecken wollte. Weil ich Sorge hatte, das ich dem armen Mann wirklich den Finger abgebissen habe und jetzt von der Polizei gesucht werde.
Interessant, ich erinnere außerdem, dass meine Großeltern mich in Schutz genommen haben. Ich könnte jetzt schreiben, Gott hab sie selig. Sie sind gestorben, als ich neun Jahre alt war. Ich glaube, niemand hat mich als Kind mehr geliebt als diese beiden warmherzigen Alten. Ich vermiss sie. Heute noch.
Gerade heute. Wo ich meinen Arzt natürlich nicht auf den Finger gebissen habe. Die Polizei sucht mich nur eventuell, und dann auch nur, weil ich nach der Narkose mit dem Auto gefahren bin. Was man nicht tun soll. Mit Bus und Bahn an einem Montag Abend, und die Kinder sind allein daheim – ja, ne. Das war keine Option. Mich abholen lassen? Um 19 Uhr? Von wem? Auch keine Option. Ich hätte bestimmt Freunde, wenn ich fragen würde. Aber ich habe nicht gefragt. Ich fahre lieber selbst.
Ich, selbst. Als Kind. Wo ist meine Erinnerung? Warum kann ich mich daran erinnern, wie die Zahnschmerzen anfingen, damals? Dass ich daheim war und ein Buch gelesen habe? Und dann Filmriss? Meine Mutter hat nach dem Zahnarztbesuch mit mir geschimpft, weil ich kein braves Mädchen war. Wo sie geschimpft hat? Noch beim Arzt oder danach im Auto oder wie wir überhaupt zum Arzt gekommen sind? Kein blasser Schimmer.
Aber die Witze danach und die Scham, dass ich den armen Arzt gebissen habe, die habe ich in Erinnerung. Die Geschichte fällt mir bevorzugt dann ein, wenn ich selbst beim Arzt bin. So ist das wohl. Kindheitsgeschichten. Opa und Oma. Die mich getröstet haben im Garten, weil ich geweint habe. Die das nicht witzig fanden, dass sich mein Bruder über mich lustig gemacht hat. Und alle anderen mitgelacht haben.
Tja, was gäbe ich dafür, wenn diese beiden Menschen etwas länger hätten leben können. Sehr viel. Mit ihnen sind die Menschen gestorben, die mir ein Gefühl von Wärme, Sicherheit und Liebe gegeben haben. Nur selten. Wenn ich bei ihnen übernachtet habe. Unter einer dicken, warmen Daunendecke. Bis zum Kinn zugedeckt, mit noch einem Kuss auf die Stirn. So eine warme Erinnerung. Und der Duft von heißem Kakao und eingemachtem Obst in der Wohnung. Der Johannisbeersaft, unvergessen und unvergleichlich. Überall Weckgläser. Draußen im Garten Büsche voller Himbeeren, Johannisbeeren, Stachelbeeren, Brombeeren. Die beiden großen Regentonnen, auf denen oft Wasserläufer zu beobachten waren. Und neben den Wasserläufern die Mücken, die ertrunken waren.
Und meine Großeltern, die mir sagten, ich solle aufpassen, nicht in eine der Regentonnen zu fallen, ich könne sonst ertrinken. Und ich, die ich darüber nachdachte, wie es wohl wäre, in eine der Regentonnen zu fallen. Gedanken, zum Sterben schön, hatte ich schon sehr früh in meinem Leben.
Ich kann den Sommer noch riechen, den von damals. Die Angst, die Scham und meine liebevollen Großeltern, die die Schatten fern gehalten haben von mir.
Ich vermisse euch.
Und ich vermisse meinen Zahn, der heute gegangen ist. Da ist ein Loch. Es wird sich füllen, wie alle Löcher das zu tun pflegen.
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