Neues im Gewohnten

Ich mag Neues – ich mag sogar Veränderungen – und dennoch fahre ich oft und gern an immer dieselben Orte. Das Gewohnte gibt mir Sicherheit. Faszinierenderweise bin ich also doch langweiliger, als ich selbst denke. Ich will gar nicht so viel Neues. Mir reicht es, wenn es Neues im Gewohnten gibt.

So wie gestern, in der Sauna. Da habe ich Gespräche mit neuen Menschen geführt, die ich vorher nicht kannte. Das war schön. Es war aber auch nur möglich, weil ich mich gut gefühlt habe und offen für den Austausch mit anderen Menschen war. Neues kann nur zu mir kommen, wenn ich wach genug bin. Ansonsten verpenne ich die neuen Eindrücke einfach …

Heute sitze ich in Delft. Das ist eine kleine Stadt in Südholland. Ist jetzt nicht so überraschend, dass ich in Delft bin. Fast ist es schon eine liebe Gewohnheit. Ich habe ein paar wenige freie Tage für mich, und die verbringe ich – in gewohnter Umgebung. So richtig wagemutig frei raus bin ich gar nicht, sonst wäre ich nach Kuba geflogen!

Wohl kaum, ist mir nur gerade eingefallen.

Bei allem, was es in Delft an Gewohntem für mich gibt, wage ich auch ein wenig Neues. Ich bin in einem Hotel, dass ich noch nicht kenne. Ich plane Ausflüge an Orte, die ich noch nicht kenne. Aber ich will auch einen Tag nur damit verbringen, meinen Blick zu weiten an Orten, die ich immer wieder neu sehe. Die mir vertraut sind. Diese eine Gracht in Delft mit dem Parkplatz an einem Baum. An dem Baum hängen kleine bunte Blumentöpfe, in denen normalerweise Kräuter wachsen. Ich war vorhin dort. Momentan wächst nichts, aber die Blumentöpfe sind noch da. Das gibt mir ein Gefühl des nach-Hause-kommens an einem fremden Ort. Es ist melancholisch schön und bringt mich zum Lächeln.

Auch, wenn ich an der Oude Kerk vorbeilaufe oder im KeK einen Caramel Latte trinke habe ich dieses Gefühl. Es ist wohlwollend. Es geht mir gut.

Und dennoch regt sich auch ein Gefühl von – warum ist das so? Warum strebe ich die Orte an, die ich schon kenne? Wo ist mein Mut, wirklich Neues zu wagen? Neue Wege zu gehen? Vor acht Jahren war ich das erste Mal, mit K5, allein auf Reisen. Das erste Mal überhaupt in meinem Leben. Ich bin damals 10 Tage durch die Niederlande gereist und war an unterschiedlichen Orten. Delft hat es mir damals am Meisten angetan. Und seitdem – war ich mehrfach hier. Mit den großen Kindern. Mit den mittleren Kindern. Mit dem Vater von K5 (und K5). Und die letzten beiden Jahre mit mir allein. Noch mal, mit mir allein.

Wo bin ich hängen geblieben, mit meiner Schallplatte? Warum immer wieder die Niederlande? Ja, es ist schön hier. Aber wo ist mein Wunsch, Neues zu entdecken? Oder bin ich am Ende weniger Entdeckerin als ich selbst denke?

Weil – ich fahre auch an andere Orte gern ein zweites Mal. Vor allem, wenn ich schon ein schönes Café kenne. Ich mag es, zurückzukommen und nachzuspüren. Ich gehe auch daheim immer wieder dieselben Wege. Durch den Wald. Durchs Viertel. Ich gehe seit Jahren in dieselben Cafés. In dieselbe Sauna. Ich will wenig Neues. Ich will mehr Sicherheit. Ich gehe auch gern auf immer dieselben Meetups, am besten mit immer denselben Menschen. Sobald ich einen Raum kenne und die Menschen, die diesen Raum mit mir nutzen, gibt mir das Sicherheit. Laufruhe. Das tut mir gut.

Eine neue Sauna, ein neuer Urlaubsort, ein neues Ausflugsziel? Das geht schon. Es kostet mich allerdings viel Kraft, und das merke ich auch erst hinterher. Tage später kommt die Erschöpfung aus zu vielen neuen Bildern in meinem Kopf. Aus zu vielen neuen Eindrücken. Aus zu vielen neuen Vernetzungen, die mein Hirn bewältigen muss. Weniger ist mehr.

Ich werde alt!

Unfassbar, ich weiß gerade selbst nicht, was ich davon halten soll …

Aber – es ist genau so. Und dann ist das halt genau so. Aus einem sicheren Ort heraus kann ich Neues wagen. Dazu fällt mir ein, dass es ich mich auch daheim sehr wohl fühle. Ich lieb mein Zuhause. Klar – hier bin ich sicher. Sogar dann, wenn es mir schlecht geht und ich mein Leben weniger gut im Griff habe. Meine Wohnung verzeiht mir das. Sie kennt mich auch schon ein paar Jahre …

Ich bin heute sehr entspannt nach Delft gefahren. Individualreisend, mit dem Auto. Mein Auto kennt Delft auch schon. Ich parke auch immer auf demselben Parkplatz. Ich sages ja – gewollt gewohnt. Ich gehe sogar in dieselben Geschäfte und freue mich, wenn die Verkäuferinnen noch da sind …

So schön das ist – so unheimlich ist es mir auch. Wie werde ich wohl werden, wenn ich noch älter werde? Und, ist das ein guter Zustand oder ist es eher traurig? Woher kommt das, dass ich immer häuslicher werde? Oder war ich im Grunde schon immer häuslich? Ich habe nur wenige Reisen unternommen und wenn ich früher feiern war, dann meistens in der Krone oder im Steinbruch. Mir war das Recht. Da fühlte ich mich wohl.

Sicher.

Gewohnte Sicherheit.

Neues.

Ich habe vorhin dann doch mal gelesen. Gestern habe ich die Diagnose, die mein letzter Psychotherapeut in den Raum stellte, mit euch geteilt. Bipolare Störung, Typ 2. Bei mir fehlt die Manie, ich bin nur hypomanisch. Das bedeutet, der manische Anteil ist abgeschwächt. Aber – nun ja, wenn ich ehrlich bin, habe ich tatsächlich diese hypomanischen Phasen. Gerade im April erst. Ich bin dann unfassbar schnell, kreativ, übersprudelnd, voller Energie, ich habe Ausstrahlung und Kraft und kann alles schaffen. Mein Selbstwert ist dann sogar für mich spürbar. Anders noch, ich fühle dann auch oft überlegen und teile das mitunter auch mit.

Nach so einer Phase folgt fast immer eine depressive Delle. Meist auch mit etwas Scham, wie ich mich so auf lähmen könnte. Und wenn ich ehrlich bin – hatte ich letztes Jahr auch eine. Und das Jahr davor. Delle. Meist im Sommer, ich hatte das schon beobachtet. Und die depressiven Dellen sind weit länger als nur zwei Wochen. Die letzte Episode ging von Ende April bis Mitte Juli. Und auch wenn es sich oft leicht liest, ist es gar nicht leicht.

Ich arbeite ununterbrochen daran, mich in einem gesunden Maße zu bewegen. Bewegung spielt dabei eine große Rolle. Gewohnheiten spielen auch eine große Rolle. Sichere Räume, in denen ich entspannen kann, ebenso. Ich schreibe manchmal, dass ich denke, dass ich endlich gesund sei. Aber das ist leider nicht die Wahrheit. Ich hatte meine erste depressive Episode in der Jugend. Samt suizidaler Gedanken und Hoffnungen. Eine Atmosphäre von romantischer Sterbenssehnsucht. Sehr gruselig. Aber auch sehr kreativ und inspirierend. Für traurige Bücher, traurige Bilder und traurige Musik …

In hypomanischen Phasen bin ich leuchtend schön. Diese Phasen sind leider seltener und wenn sie da sind, genieße ich sie schon sehr. Ich halte mich dann auch nicht für krank. Nein, ich empfinde sie mit Dankbarkeit, weil das Depressive in der Zeit nicht da ist.

In den depressiven Phasen kann ich weniger gut arbeiten, bin langsamer, fühle mich innerlich leer und unzulänglich, habe das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Ich kann dann meinen Alltag nur unter großer Kraftanstrengung wuppen. In diesen Phasen habe ich kaum Freunde um mich und bin auch keine gute Freundin. So wie ich in den hypomanischen Phasen mitunter übersehe, wie sich andere Menschen fühlen, so kann ich in den depressiven Phasen oft nicht fühlen, was andere Menschen fühlen. Ich fühl ja selbst so wenig.

Es ist ein wenig wie im Gewohnten etwas Neues zu entdecken. Tatsächlich – das bin ja ich! Und eventuell ist mehr an der nie offiziell gestellten Diagnose meines Therapeuten als ich mir eingestehen wollte. Ich bin damals einfach gegangen. Ich war austherapiert und er hat keine Verlängerung für mich bekommen. Nicht ohne Diagnose.

Tja. Da gehen gerade Gedanken auf Wanderschaft. Ob ich am Ende doch eine Diagnose brauche. Um ausreichend Hilfe für mich zu erhalten. Wenn die Diagnose tatsächlich stimmt, dann bin ich halt krank. Also – chronisch krank mit mindestens einer depressiven Episode im Jahr. Also – das ist so. Es könnte aber auch einfach ADHS sein und damit weniger dramatisch. Ob ich das jetzt doch mal untersuchen lassen möchte? Ob ich das wirklich wissen will?

Eigentlich will ich einfach nur gut leben können. Egal mit was. Und ich möchte weniger tief in die depressiven Stimmungen fallen. Und ich glaube, ich bin ziemlich wach mit mir. Inzwischen sogar dann, wenn ich ein Hoch habe. Also, Hoch die Tassen, auf ein wenig Neues im Gewohnten.

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