Was Macht Musik

Gefühle weckend. Manchmal auch Gefühle, die tief und fest geschlafen haben. Um überraschend mitten in der Nacht zu erwachen. Hinhörend.

“Darf ich zu dir kommen?”, fragen die Gefühle. Mit einem Teddy unter den Arm geklemmt stehen sie neben meinem Bett. Kuscheln? Kannst du mich bitte kuscheln? Wenn ich meinem Sohn nachts den Rücken zudrehe, fordert er mutig meine Nähe ein. “Mama! Bitte dreh dich um und kuschel mich!”

Natürlich drehe ich mich zu ihm und nehme ihn in den Arm. Das, was ich ihm geben kann an Sicherheit und Liebe, das gebe ich ihm. In unserem sehr durchtakteten Alltag ist tagsüber manchmal wenig Zeit für diese Nähe. Für unsere Gefühle. Sie kommen daher nachts zum Vorschein, schleichen sich ans Bett und kuscheln liebevoll. Am nächsten Morgen riechen sie ein wenig aus dem Mund und verziehen noch halb schlafend das Gesicht. Ich weiß, sie sind endlich, weil mein Sohn irgendwann nicht mehr nachts zu mir ins Bett kommen wird. Bis dahin genieße ich. Jedes einzelne seiner Gefühle. Nähe suchend.

Seine Gefühle.

Und hier, meine Gefühle. Ganz neue Gefühle sind dazugekommen. Einsame Gefühle, die lange allein waren. Die mir im Gehen nachgelaufen sind. Die spielend auf die Straße gefallen sind. In Akkorde gehüllt, klingend. Sanft. Wütend. Begehrend. Harmonisch. Leicht. Laufen Finger über die Tasten. Ich kann es sehen. Fühlen. Hören.

Wo lagen diese Erinnerungen? Warum kommen sie jetzt?

Mit fünf habe ich angefangen, Klavier zu spielen. Meine Schwester, zehn Jahre älter, war wahrscheinlich mein Vorbild. Es gab dieses Klavier, im Zimmer meiner Schwester. Es gab meine Schwester, die viel Klavier spielte. Es gab diese Klavierlehrerin in Kassel Niederzwehren, in einem Mehrfamilienhaus. Ein tristes, graues Haus. Ich erinnere mich dunkel. Bis zum Alter von neun oder zehn Jahren hatte ich bei ihr Unterricht. Sie hatte so eine tolle Blechdose, in der sie Schokolade aufbewahrte. Bereits in Stücke gebrochen, unterschiedlichen Geschmacks. Weiße Schokolade, dunkle Schokolade, Vollmilchschokolade. Nach dem Unterricht durfte ich mir ein Stück Schokolade nehmen …

Spannend, dass ich diese Dose noch sehen und die Schokolade riechen kann. Dieser ganz eigene Geruch, wenn sie die Dose öffnete. Aber an das Gesicht meiner Klavierlehrerin erinnere ich mich nicht…

Ich habe mir oft vorgestellt, dass ich so eine Dose auch haben wolle, wenn ich groß bin. Tatsächlich habe ich dieses Denken einmal umgesetzt. Ich habe als junge Erwachsene eine Dose mit Schokolade gefüllt, nur für mich. Die unterschiedlichen Sorten haben sich gar nicht gut verstanden, es war ein wildes Geschmacksdurcheinander. Etwas, dass mir als Kind nicht aufgefallen ist. Ob es da auch schon ein Geschmacksdurcheinander war, wenn die weiße Schokolade mit der Bitterschokolade kuschelte? Ich erinnere es nicht. Ich erinnere nur die Faszination. Die Vorhänge. Ich habe gespielt, und anfangs waren meine Hände zu klein, um die Akkorde zu greifen. Wir haben viele Tonleitern geübt. Und Schokolade gegessen.

Kurze Zeit später hat meine Schwester ihr Studium begonnen. Musik. Klavier. Gesang. Ich war ungefähr zehn Jahre alt, als sie meine Klavierlehrerin wurde. Warum auch nicht – es sparte Geld und Fahrerei. Auf den ersten Blick eine sinnvolle Idee, die Talente im Haus zu halten. Und doch war es der Anfang vom Ende des Klavierspielens. Immer öfter war ich genervt, habe verweigert, zu üben, habe nur gespielt, was ich spielen wollte. Ob das auch mit der Schokoladendosenlehrerin passiert wäre, werde ich nicht mehr herausfinden. Klar ist nur, als kleines Mädchen habe ich geübt. Ich konnte üben. Ich habe gespielt. Später habe ich das üben sein lassen. Etwas regte sich, dagegen. Vielleicht war es auch nur die Pubertät, in der das spielen am Klavier weniger wichtig wurde für mich. Mit 14 war es endgültig vorbei. Ich habe es sein lassen.

Ich erinnere noch ein Schulkonzert, bei dem ich ein Klaviersolo gespielt habe, von Mozart. Höhepunkt meiner Karriere 😉
Da war ich eventuell 13, vielleicht auch schon 14. Es war gegen Ende meiner aktiven Klavierspielzeit.
Nach der Aufführung kamen auch Klassenkameraden zu mir, die sonst eher nicht mit mir gesprochen haben. Um mir zu gratulieren, für diesen tollen Auftritt. Mein letzter Solo-Auftritt. Ich bin danach nur noch auf die Bühne gegangen, um im Chor zu singen, gemeinsam mit anderen. Und, um meiner Schwester die Noten umzublättern, auf ihren Konzerten. Dabei war die Aufregung und die Ruhe, das Selbstverständnis, zu Spielen, ganz wunderbar. Warum habe ich das sein lassen?

Meine Schwester hatte es nicht leicht, mit mir als kleiner Schwester und Schülerin. Schon sehr früh war sie mehr als meine Schwester. Ich hatte eine engere Bindung an sie als an unsere gemeinsame Mutter. Sie hat viele Erziehungsaspekte übernommen. Ich durfte immer in ihrem Zimmer sein, der Ort, an dem ich weniger Angst hatte. Ich durfte stundenlang an ihrem Klavier sitzen. In ihren Büchern lesen. Ihr nahe sein. Meine Gefühle haben. In der Kombination Klavierlehrerin und Pubertät hat das seine Grenzen gefunden. Damals hatte sie schon einen Konzertflügel und kein Klavier mehr. Und ich habe es geliebt, dieses Instrument. Klangvoll. Stark. Nur ich, habe aufgehört, zu spielen.

Meine Schwester sagte damals, sie könne das nicht verstehen. Das, was mir leicht zufiele und für das ich kaum üben müsse, dafür müsse sie hart arbeiten. Wie ich mein Talent einfach so wegwerfen könne. Tja. Ich weiß es nicht. Irgendwie – war es so –

Meine Faszination für das Instrument Klavier blieb dennoch. Noch heute rührt Klaviermusik eine Seite in mir. Seit drei Tagen achte ich besonders darauf und bin ein wenig überrascht, warum mir das gerade jetzt so bewusst wird. Lieder mit einem Klavierpart holen mich schneller ab. Ich verstehe gerade, warum John Legends All about you sofort drin war bei mir. Es ist nicht seine Stimme. Es ist das leichte Klavierspiel. Ich könnte zig Lieder aufzählen, die mir genau deshalb so nah gehen. Nur, bewusst war mir das nicht.

Bewusst wird mir das erst jetzt. Klaviermusik ohne Gesang löst noch mehr aus. Seit drei Tagen sitze ich abends in meinem Zimmer und höre Klaviermusik von dieser Playlist, die ich auf Spotify gefunden habe. Klaviermusik, die auf der Beerdigung von Martin gelaufen ist. Martin. Mein erster Kuss.

Ich kann spüren, wie ich beim Musikhören ruhiger werde. Meine Atmung wird tiefer, ich entspanne und ich werde weich. Wie so ein Schokoladenkuchen mit flüssigem Kern. Manchmal läuft mir eine Träne übers Gesicht, weil es innen drin so voll von flüssigem Schokoladenkern ist.

Ich erinnere einen Abend im Europapark mit meinen großen Kindern. Florian war gerade 18 geworden, Lea war 16. Wir saßen abends in einer Bar, die einem englischen Club nachempfunden war. Sie hatten einen Pianisten. Ich war den ganzen Abend besonders empfindsam aufmerksam glücklich. Heute überlege ich, ob das auch am Pianisten lag und nicht nur an der Anwesenheit meiner damals schon unfassbar tollen Kinder.

Was waren wir jung.

Damals, in der Aula in der Schule. Du, am Klavier spielend. Was war ich jung. Und verliebt, in die Leichtigkeit der Gefühle, die du in Musik packen konntest. Damals kam der Wunsch zu mir, selbst wieder zu spielen. Ein wenig habe ich geübt. Lieber habe ich dir zugehört. Vielleicht hättest du mein Lehrer werden sollen – vielleicht hätte ich weiterspielen sollen. Dann hätte ich den Zugang zu so vielen Gefühlen vielleicht nicht so lange verloren. Nur, wissen kann ich das natürlich nicht. Wir wissen nicht, was passiert wäre, wenn.

Da muss ich also auf der Suche nach meinen Schritten an einer Bar vorbeilaufen. An einem beliebigen Abend im Sommer 2024. Um ins Gefühl zurückzufinden. Töne, die auf die Straße fallen, auf der ich gehe. Musik macht was mit mir. Sie macht mich ruhig und glücklich, fast schon trunken. Erhaben, bewusst und lebendig.

Ich habe schon im vergangenen Jahr gesagt, dass ich mir ein Klavier wünsche. Das kam aus dem Gesangsunterricht, in den ich besonders gern gegangen bin, weil meine Lehrerin mich am Flügel begleitet hat. Tatsächlich hat mich das motiviert, zu singen. Daheim konnte ich kaum üben – ich hatte kein Klavier, um mich zu begleiten. Es war das Klavier, dass mich singen machte. Also brauche ich wohl ein Klavier. Um zu singen. Und um zu üben. Um wieder zu üben. Wie ich es konnte, als ich fünf Jahre alt war. Einfach so. Ohne darüber nachzudenken. Weil ich spielen wollte. Weil ich es wollte. Weil Musik mein Zuhause war.

Diese Macht nicht zu nutzen, wenn auch später als gedacht, wäre vertane Freude. Das Klavier darf kommen. Es hat bereits einen Platz in der Wohnung. Einen Platz im Herzen sowieso.

Wenn die Zeit reif ist, werde ich einen Flügel haben. Und ihn in die Aula meines Lebens stellen.

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