Klaviermusik

Alles für die Challenge, auch Spaziergänge nach 23 Uhr. Noch nicht ausreichend Schritte für meinen Sohn gesammelt? Okay, dann schaue ich mal, ob ich noch welche auf die Uhr bekomme. Ich möchte ja, wenn er morgen heim kommt, vorbereitet sein. Kneifen gilt da nicht – ich habe ja meinen Ruf zu verlieren. Faulste Mama der Welt 😉

Selbstverständlich habe ich diesen Ruf nicht. Wobei – so wirklich wissen tue ich das nicht. Ich habe die Kinder länger nicht gefragt, was sie sagen würden, wenn sie mich beschreiben müssten. Das wäre aber sicherlich interessant. Oder gruselig. Je nachdem wie gut man mit Feedback umgehen kann. Ich ja bekannterweise eher Nein.

Jedenfalls, ich bin eben noch raus und habe eine größere Runde um den Block gedreht. In Berlin war ich auch am Abend noch spazieren (allerdings etwas früher, ist sonst doch eine andere Hausnummer als im beschaulichen Darmstadt). Da war mehr Leben, Halleluja. Ich war ziemlich beeindruckt, wie viel Leben da so war, in Berlin. Hier? Gabs auch ein wenig Leben. Ein paar Menschen saßen noch im Restaurant draußen. Andere habe ich Lachen gehört, aus der Orangerie heraus. Die saßen eventuell einfach noch auf der Wiese und haben ein Bier getrunken. Und dann, im weitergehen, habe ich Klaviermusik gehört. Aus einer kleinen Weinbar, hier um die Ecke. Irgendjemand saß am Klavier und hat gespielt. Nichts besonderes, es war eher ein Wiederholen.

Und in dieser Wiederholung einiger Tastenkombinationen wurde ich weich. Ein wenig als würde die Seele schmelzen. Klaviermusik berührt mich ganz tief drinnen. Ich kann gar nicht beschreiben, wie sich das anfühlt.

Vor gar nicht langer Zeit, ganz hier in der Nähe, habe ich regelmäßig einem Klavierspieler zugehört. Ich bin in jeder freien Minute auf die Suche nach ihm gegangen, um ihn meist in der Aula der Schule zu finden. Am Flügel. Spielend. Ich war ihm quasi verfallen. Ich war 16 und er irgendwas mit über 20, Medizinstudent, Pianist. Schwarz gekleidet und ein wenig melancholisch. Ein Genie. Begabt bis in die Fingerspitzen. Schönsten Jazz mit Leichtigkeit improvisierend. Martin Mayer.

Ich war nicht alleine mit meiner Obsession. Er hatte viele weibliche Fans. Die Aura eines traurigen, verletzten und dabei unfassbar begabten jungen Künstlers. Dieser Aura konnte ich jedenfalls nicht ausweichen. Sie hat mich angezogen wie Motten das Licht. Einen alten Mercedes ist er gefahren, beige. Mit alten Ledersitzen. Ich weiß auch noch, wo er gewohnt hat. Ich weiß auch noch, von wem ich meinen ersten Kuss bekommen habe. In diesem Mercedes sitzend.

Weiß ich noch.

Ich weiß noch, wie seine Seele sich verwandelte, wenn er am Klavier saß. Es war, als wären alle schweren Gedanken schwebend, tanzend, sich liebend. Unsere Herzen waren leicht. Für Momente.

Es war ein Sommerflirt. Ein erster Kuss. Der Gedanke, seine Traurigkeit müsse sich doch heilen lassen. Ich könne doch das Heilmittel sein. Das konnte ich natürlich nicht – ich war viel zu sehr Kind, naiv, noch ein Mädchen. Und auch als Frau hätte ich das wohl nicht gekonnt. Es war ein kurzes Aufflammen vieler Emotionen. Geblieben ist, dass ich an ihn denke, wenn ich einen alten Mercedes sehe. Oder wenn nachts aus einer Bar Klaviermusik auf die Straße fällt. Dann sehe und höre ich ihn vor mir und erinnere, wie sehr ich ihn angehimmelt habe. Wie unsterblich wunderbar ich ihn fand.

Ein Album hat er aufgenommen, damals 1993, da hatten wir schon lange keinen Kontakt mehr. Kurz darauf habe ich erzählt bekommen, dass seine Traurigkeit ihn aus dieser Welt genommen hat. Das Klavier hat ihn nicht retten können. Wann genau, das weiß ich nicht. Zu der Zeit war ich selbst auf der Suche nach meinem Weg, und die Traurigkeit im Herzen lief oft genug neben mir. Vielleicht hatten wir uns auch deshalb getroffen. Weil Musik in uns wohnt, aber auch Traurigkeit.

Einmal war ich in seiner sehr vermüllten, unordentlichen und mit Bierflaschen vollgestellten Wohnung. Ein Zimmer. Traurig. Das Bett ungemacht, der Mann ungeduscht, die Verzweiflung greifbar um uns. Ich habe mich damals sehr erschreckt, weil es nichts mit der traurigen Lichtgestalt am Flügel in der Aula meiner Schule zu tun hatte. Er sah aus wie ein Junkie auf Entzug, und er roch auch so. Ich fühlte mich kurz geehrt, dass ich ihn besuchen durfte. Das durfte nicht Jede und zu dem Zeitpunkt gab es auch nur mich. In meiner Welt. Wir haben rumgeknutscht auf seinem alten Ledersofa, und ich konnte beobachten, wie er sich für mich entzauberte. Schaler Biergeschmack, Schweißgeruch, keine Faszination. Seine Verzweiflung war groß, zu groß für mich. Ich konnte ihn nicht fassen. Seine Art, sich selbst zu schützen, und ironisch herablassend mit mir umzugehen, hat mich gehen lassen. Er sei zu alt für mich. Eigentlich war er nur zu traurig für mich. Ich habe das Feld anderen Frauen überlassen. Es gab genug, die sofort meinen Platz einnehmen konnten und wollten. Für wie lange? Ich habe nicht gefragt.

Ich weiß nur, wie betroffen ich war, als ich hörte, dass er nicht mehr lebt. Wann war das? Fünf oder sechs Jahre später? Oder war sogar mein erster Sohn schon geboren? Und wer hat es mir erzählt? Ich kann es gerade nicht erinnern. Es ist auch nicht so wichtig. Ich weiß nur, ich war im Luisencenter unterwegs. Ich war nicht überrascht – aber sehr betroffen. Es war ein Vakuum. Als hätte die Welt kurz vergessen zu atmen.

Ich habe diese Gefühlsepisode, dieses Verliebtsein, diese ersten Küsse, meinen ersten Kuss, weit nach hinten geschoben. Als seien sie nicht gewesen. Seine beschützende Art. Ironisch, manchmal bissig, oft von sich selbst überrascht. Er hat mein Lächeln geliebt. Ich sei strahlend. Sein Licht. Und ich, ich war einfach zu jung. Und er, er war einfach zu krank.

Jetzt liegt hier neben mir sein Album auf dem Tisch. Und ich habe keinen CD-Player, um mir das volle Gefühl zu holen. Natürlich gibt es das Album nicht auf Spotify zu hören … Was ich aber gefunden habe, ist eine Playlist. Sie heißt 1A-Beerdigung-Ausklang … Martin Mayer. Ich glaube jetzt einfach, dass es die Musik zu seiner Beerdigung ist. Und höre sie. Leise weinend. Klaviermusik, natürlich. Traurig, voller Seele, beschwingt, fast fröhlich, alle Facetten von Gefühlen schwingen um mich.

Morgen laufe ich wieder 10000 Schritte in meinem Leben. Und denke über meinen Plan nach, der sagte, dass ich ein Klavier in meinem Leben haben möchte. Wieder. Um zu spielen. Um meine Seele tanzen zu lassen. Um weinen zu können. Ich weine viel zu selten.

Depressionen sind wie blinde Flecken auf meiner Seele. Warum liegen Genie und Wahnsinn oft so nah beieinander? Warum sind gerade die kreativen, die musikalischen, warum sind gerade wir so anfällig für Depressionen? Ist unser Hirn anders strukturiert? Er jedenfalls war so unfassbar. Eine Seele, die Musik in die Welt getragen hat. Melancholisch.

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