die Zuckerdose meiner Mutter

Süße, verschwommene Erinnerungen. Kein konkretes Erlebnis, kein „Finger in die Dose gesteckt und Ärger bekommen“, da ist nichts, was mich in einer Emotion mit dieser Dose verbindet. Sie ist rot. Sie ist alt. Sie war immer da. Bewusst unbewusst, in unserer Küche, damals, als ich ein Kind war. Ich weiß noch, wo die Brotschneidemaschine stand, ich weiß nicht mehr, wo die Zuckerdose stand. Vermutlich war sie im Schrank. Wenn, dann, in dem unter dem Kühlschrank. Vielleicht.

Und dennoch ist sie mir total präsent. Vielleicht, weil sie so rot ist. Und vielleicht, weil sie so süß ist.

Letztes Jahr im November haben wir die Wohnung meiner Mutter ausgeräumt, meine Schwester, mein Bruder und ich. Sie ist jetzt in einem Pflegeheim, bettlägerig. Ab und an besuche ich sie. Eher ab als an. Es tut mir (noch) nicht gut, es verletzt mich. Manchmal spüre ich dennoch diese Verantwortung, dass ich da sein sollte. Hinfahren sollte. Mich kümmern sollte. Und dann denke ich wieder – dass ich hier genug Dinge habe, um die ich mich kümmern darf, und dass die alle lebendig sind und meiner Aufmerksamkeit und Liebe bedürfen. Meine Mutter hatte wenig Aufmerksamkeit für mich, jedenfalls normalerweise. Es sei denn, ich war auffällig, in einer Form, die ihr nicht gefallen hat. Dann gab es Aufmerksamkeit. Allerdings meist von meinem Vater, der die Aufmerksamkeit auf den Hintern bringen durfte, mit seinem Gürtel. Schläge auf den Arsch lassen mich heute noch senkrecht stehen. Auch ein wohlmeindend liebevoller Klaps auf den Hintern ist keine gute Idee. Da habe ich einen Schlag weg.

Die rote Zuckerdose ist mir also letztes Jahr beim Ausräumen der Wohnung begegnet. Ich habe auch ansonsten einiges an Kram mitgenommen, das alte Schneidbrett (siehe Foto, auf dem die Zuckerdose steht), die alte Knoblauchpresse, Fotoalben, die ich ihr gebastelt habe, alte Kalender mit Bildern der Kinder darinnen. Solche Dinge. Mein erstes Memory, unser Memory, die Karten sind ganz alt und abgegriffen. Wie oft wir Memory gespielt haben! Es war eines der Spiele, die auch meine Mutter gerne mit uns gespielt hat. Sie hat auch ansonsten ab und an gerne mit uns Zeit verbracht – dann, wenn es ruhig war und es ihr gut ging. Sie war immer sehr empfänglich für Krach, und sie lag oft mit Migräne im Bett.

Manchmal, da saßen wir im Winter, am späten Nachmittag oder Abend, an der Heizung in der Küche und haben Sonnenblumenkerne genascht. Die wurden vorher im Ofen geröstet. Eine sehr friedliche, angenehm leichte, warme Erinnerung ist das. Dicke Socken an den Füßen und eine Schüssel mit Sonnenblumenkernen. Es waren nur kurze Momente. Ich weiß, dass das keine Regelmäßigkeit hatte. Aber es ist ein kurzer Moment vollkommenen Glücks in meiner Kindheit. Den ich gerne erinnere.

Es tut gut, das Gute zu erinnern. Die Hilflosigkeit und die Erschöpfung auszublenden. Darauf zu fokussieren, was schön war. Wenn ich nachmittags aus der Schule kam, ich war lange mit dem Bus unterwegs vom Dorf in die Stadt und zurück, manchmal gab es dann eine große Tasse heiße Schokolade. Im Grunde war es nur ein Kaba mit warmer Milch. Aber es war wohltuend. Ich saß in der Küche, am Tisch, mit dieser sehr großen Tasse. Und war zufrieden. Auch so ein Moment, in dem ich das Gefühl hatte, dass da jemand ist, der sich um mich kümmert. Dass ich meiner Mutter nicht nur ein Störenfried bin.

Die rote Zuckerdose ist kaputt. Ein Teil am Deckel ist abgebrochen, und die Dose hat einen Riss bis auf den Boden. Ich habe sie so, kaputt, im Müll gefunden, als ich vor einem Jahr die Müllsäcke aus der Wohnung runter gebracht habe. Meine Mutter hat in einem Mehrfamilienhaus mit Parkhaus im Keller gewohnt. Da war auch die Müllsammelstelle, mit mehr als einem großen Müllcontainer. Reiner Zufall, dass ich diesen einen Container geöffnet habe. Und da lag sie. Oben drauf. Ich ahne, meine Schwester hat sich auch nicht leicht von der Dose trennen können und hat sie dann einfach – vorher schon – einzeln nach unten getragen. So sah es jedenfalls aus. Ich habe kurz gezögert, ob ich sie dort belassen soll oder ob ich sie wieder mit hoch in die Wohnung nehme. Zurück ans Licht. Ich hatte die Wahl. Zurück ans Licht, oder für immer den Deckel drauf. Müllsäcke oben drauf. Nicht mehr sehen. Nicht mehr denken.

Ich stand sicherlich 10 Minuten vor dem Müllcontainer und habe überlegt. Was ich mit einer roten Zuckerdose will, die keine Funktion mehr hat. Ich habe sie dann rausgefischt und mit hoch genommen, gereinigt und ins Auto gepackt. Vom Auto aus kam sie mit in meine Wohnung und stand bis vorhin im Schrank, hinter dem Tee. Weiterhin, ungesehen. Weiterhin, kaputt.

Die Motten wollten heute, dass ich ein wenig Tee aufräume. Ich trinke offenbar zu wenig Tee, oder zu langsam. Motten mögen Tee. Und wo ich so aufräume, habe ich die rote Dose wieder in der Hand. Wieder mit der Frage, warum. Warum bist du mit nach Hause gekommen? In mein erwachsenes Zuhause? Zuckerdose? Sprich! Und die Zuckerdose hat gelächelt und gesagt, damit du, liebes Kind, die guten Momente erinnerst. Die Süße deiner Kindheit. Das Salz deines Lebens. Einzelne, gute Momente, mit deiner Mutter. Geröstete Sonnenblumenkerne am warmen Ofen. Heißer Kakao nach der Schule. Trost.

Ich habe oft Trost gesucht. Und selten gefunden. Meist habe ich dann den Trost im Zucker genommen. Würfelzucker fand ich besonders gut. Darfs noch ein Stückchen mehr sein? Ich war ein untröstliches Kind. Manchmal bin ich eine untröstliche Erwachsene. Die Sehnsucht nach dem warmen Ofen und der heißen Schokolade, gerade jetzt, im November, ist sie da. Warme Socken. Einkuscheln. Ruhen.

Heute kann ich mich um mich selbst kümmern. Besser, als ich das jemals zuvor konnte. Und ich möchte auch meinen Kindern eine rote Zuckerdose hinterlassen, Momente, in denen wir uns nahe sind, lesen, vorlesen, kuscheln, gemeinsam kochen, die Stille dehnen, albern kreischen. Das volle Leben. So viel wie geht.

2 Antworten zu „die Zuckerdose meiner Mutter“

  1. Bernd

    Bei mir war es nicht nur ein Klaps!
    Ich habe von meiner Mutter sehr oft so den Hintern vollgekriegt, dass ich kaum sitzen konnte!
    Meistens gab es mit dem Hosengürtel oder Teppichklopfer.

  2. Larissa

    Darf ich dir ein warmes Plätzchen anbieten, hier, bei uns am Ofen? Ohne Teppichklopfer und Gürtel?
    Es ist traurig, dass das in vielen Familien so normal war. Eine geschlagene Generation 😢.
    Ich schicke dir eine Umarmung 🤗

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