Fangfädenscheißen

Ich bin unsicher. Ich weiß kaum, wo ich anfangen soll. Welche Geschichte ich erzählen soll. Es sind so viele Geschichten, die Gedanken legen sich übereinander, weben ein Netz. Wie eine Spinne, spinne ich an diesem Netz aus großen, kleinen, kleinsten Momenten meiner Geschichte. Es ist ein wenig anstrengend, immer alle Fäden in der Hand zu behalten. Oder, die Geschichte auf dem Punkt zu scheißen. Bei Spinnen sitzt ja die Drüse für die Produktion des Fangfadens auch am Hinterteil. Wo sitzt diese Drüse wohl bei mir?

Fangfaden für vernetzte Geschichten.

Und, dabei ist noch darauf zu achten, dass da genug hormoneller Ausgleich besteht, damit die Drüse arbeiten kann, wie sie arbeiten muss. Jedenfalls stelle ich mir das gerade so vor. Zu viel Adrenalin, und die Geschichte klingt gleich ganz anders.

Wusstet ihr, dass Adrenalin satt macht? Jedenfalls wirkt es bei mir so. Große Aufregung, kein Hunger. Sogar bis hin zu, mir wird schlecht, wenn ich dann esse. Kaffee geht, den schütte ich mir dann gerne vor Aufregung über mein Shirt. Aber die Geschichte dazu – die will jetzt noch nicht schlüpfen. Die hat noch eine Wortfindungsstörung.

Derweil überlege ich, wie weit der Gedankengang denn passt. Weil, free your mind and your ass will follow. Selten war mir klarer, wie sehr ich spinne!

Tatsächlich ist heute Samstag. Ein Samstag danach. Es gibt immer einen Samstag danach. Gestern war Freitag und ich habe all meine Dinge aus dem Koffer und dem Rucksack auf den Fußboden im Wohnzimmer gekippt und bin ins Bett gegangen. Ich wünschte mir Freiheit für Alles, auch für meine Gedanken. Da hatten sich ein paar ganz unten im Rucksack zusammengetan, freundlich verklebt mit schokoladigen Dingen. Es brauchte Luft. Und herumliegen.

Ich habe mich dann auch herumgelegen, im Bett. Ausgelüftet, nach drei Tagen on the road. Zug um Zug. Bahn um Bahn. Bus um Bus. Im Regen getanzt. Im Regen gesungen. Im Zug gesungen. Ich reise ja lieber mit dem Auto, weil ich da laut singen kann. Diesmal war es aber eine Reise mit dem Zug, und ich testete das Singen. Vor der Kaserne. Vor dem großen Tor. Steht eine Laterne – und steht sie noch davor –

Die erste Reise seit langer Zeit (mit dem Zug). Und sie war besonders. Wie es halt ist, wenn ich mit mir reise. Immer besonders. Mehr als eine Geschichte.

Ich bin unsicher, wo fange ich denn an? Im Zug? Und wenn ja, in welchem?

In Berlin war ich. Auf einer Konferenz war ich. Mit anderen Menschen war ich. Herausgefordert war ich. Herausfordernd war ich vermutlich auch. Das bin ich gerne und oft ganz unbewusst. Vor allem dann, wenn ich bin, wie ich bin. Also, mein liebster Urlaub? Das war damals, in Schweden, mit dem Camper, auf einer gepachteten Wiese an einem See. Ich habe es gefeiert! Gummistiefel mit kurzem Rock und Top. Das ist mein Style! Neben Gummistiefeln mit langem Rock, natürlich. Natürlich ist das Motto.

Ich schminke mich ja nicht. Ich wüsste auch gar nicht, warum. Ich bin einfach, ungeschminkt, gehe mit noch nassen Haaren zum Frühstück und lächele. Das funktioniert immer noch, auch heute, mit 50. Und ja, wenn ich geschminkt bin, sehe ich anders aus und wirke anders. Manchmal ist eine Maske etwas sehr schönes und genau so sehe ich das dann auch. Wie Karneval in Venedig. Maskiert. Eine Rolle spielend.

Viel zu oft spiele ich eine Rolle. Auch ungeschminkt. Meinen vielen Rollen will ich mal auf den Grund gehen. Damit mir das Garn nicht ausgeht. Weil, wichtig. Mein neuer Koffer hat auch diese vier Rollen, mit denen man sehr elegant über Bahnhöfe rollert. Eine gute Entwicklung, für Koffer. Und Bahnhöfe. Kein “hinter mir her ziehen” mehr, sondern ein “mit mir rollend”. Das fühle ich!

Ich bin immer noch unsicher, wo soll ich denn beginnen? Kleine Anekdoten? Viele Geschichten? Diese Unsicherheit trage ich ja auch im Herzen, wenn ich mich frage, welches Buch ich schreiben will. Welche Geschichte ich erzählen will. Es sind zu viele Möglichkeiten. Welche Möglichkeit braucht es wirklich? Was will ich wissen. Was willst du wissen?

Heute, beim Friseur, hatte ich ein schönes Gespräch mit der Dame neben mir, 39 Jahre jung. Sie erzählte, dass ihre Mutter stark mit Demenz erkrankt ist. Und sie, die so viele Ähnlichkeiten zu ihrer Mutter sieht, hat schlichtweg Angst. Angst, diese Krankheit später auch zu (er)leben. Angst vor dem Vergessen. Und das beschäftigt sie. Und ja, das ist eines meiner Talente, Menschen erzählen mir in der Regel sehr schnell, was sie ganz tief drinnen bewegt.

Ich habe ihr zugehört. Und ihr einen Tipp gegeben. Er lautete – Lebe. Lebe bewusst. Fordere dich heraus. Jongliere. Tu was für dein Hirn, indem du ab und an gewohnte Wege verlässt. Mal in eine neue Stadt fährst, ohne Navi. Einfach dem Gefühl folgen. Es wird dich führen. Und dir zeigen. Was du noch nicht gesehen hast.

Jongliere, das verbindet deine beiden Hirnhälften auf wunderbare Weise und kräftigt dich und dein Denken. Dein Fühlen.

Und, schreibe es auf! Schreibe auf! Erzähle deine Geschichten! Es muss dafür kein Blog geboren werden, es braucht dafür keine Öffentlichkeit. Aber falls doch – feel free! Feel free, deine Erinnerungen zu teilen. Wo und mit wem du magst. Als Gedicht, als Liedtext, als Brief, wichtig ist nur – beginne! Beginne zu schreiben.

Beginne zu Leben! Liebe dein Leben! Es ist einmalig! Es ist endlich! Es ist geschissen wichtig, dass du lebst!

Ich bin immer noch (ein wenig) unsicher. Welche Geschichte ich als nächstes erzählen will. Mit einem bin ich mir aber sicher: wir müssen uns aufschreiben. Damit wir nicht vergessen. Wer wir sind, wer wir waren, wo wir hergekommen sind. Wir sind mehr als nur ein kleiner Punkt auf der Weltkarte der Geschichten. Wir sind Magie! Wir sind Wunder!

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