Zettel und Stift. Mein alltime Favorite! Ich schreibe ständig – Dinge auf Zettel. Mit einem Stift. Manchmal spreche ich auch Sprachnachrichten, an mich selbst. Dabei erzähle ich mir die Dinge, die ich mit Stift auf Zettel schreiben würde, wenn ich in der Situation Stift und Zettel nutzen könnte. Passiert meist auf Autofahrten oder beim Spazierengehen. Also, dass ich Memos an mich selbst spreche.
Ansonsten, hier, bei mir, Zettel. Und auch Stifte. Viele. Beim Aufräumen meines Schreibtisches sind mir wieder ein paar wunderbare Exemplare in die Hände gefallen. Ich lese dann immer neugierig und überlege, was steht denn da? Um was ging es denn? Warum steht da auf einmal „Erdbeere“? Wo war ich da gedanklich?
(Ja, das lenkt vom Aufräumen ab.)
Ich habe einiges an Zettelmaterial aus meinem letzten Job. Da habe ich durchgehend versucht, einen noch besseren Einstieg in meine Cold Calls zu finden. Ich war ständig auf der Suche nach noch schöneren Fragen, die ich den Menschen am Telefon stellen wollte. Manche habe ich auch gestellt. Einige habe ich mich nie zu stellen getraut. Manchmal habe ich gestottert. Oft habe ich mich geschämt. Wenn ich die Zettel heute lese, denke ich, Knaller. Da sind wirklich gute Fragen dabei!
Ebenso die Zwischentöne, das, was ich beim Telefonieren oder in Meetings mitgeschrieben habe. Meine Ideen zu Veränderungen, manchmal auch einfache Randnotizen, wie „Ich kannte meinen Wert nicht“ oder „Alles, was keine Emotionen auslöst, ist für das Gehirn wertlos“.
Ich liebe diese Zettel! Gerade schreibe ich auch im Marketing-Entwicklungsprozess ständig weitere Zettel. Mit Satzfragmenten, Überlegungen, Gefühlen und zwischendrin auch mit persönlichen Notizen. Ich frage mich, wie ich mit diesem Schatz an Zetteln umgehen will. Abheften? Nach welcher Reihenfolge und Logik? Oder virtuell zusammenfassen, auf einem Miroboard oder so? Und dann, haben sie dann noch ihre Magie? Oder ist dieser „Ingelheim Philharmonie“ neben „Generalist“ und „Frühstück“ eine Art Kunst, die ich in der Form niemals gescheit digitalisieren kann? Ich weiß es nicht. Wegwerfen jedenfalls fällt mir schwer. Zu sehr lese ich immer wieder Dinge, die aus mir heraus auf den Zettel gefallen sind, und die sich in Schrift, Form und Farbe einprägen.
Heute ist ein neuer Satz dazugekommen. Auf einem Lieferschein von Boden, den ich normalerweise wegwerfen würde, sobald die Rücksendung im Laden angekommen ist. Da steht – Sie haben Geschmack! – Also, das habe nicht ich geschrieben, sondern das steht da, weil mir Boden mitteilen möchte, dass ich mit meiner Bestellung in ihrem Shop bewiesen habe, dass ich Geschmack habe. Das mag ich! Ich stimme dem völlig zu! Die machen das prima mit dem Marketing. Tatsächlich sollte ich mir nochmal deren Website anschauen, um noch was dazu zu lernen. Mit Kleidung Emotionen zu wecken ist allerdings wirklich einfach.
Apropos Emotionen, heute morgen haben folgende Worte den Weg auf diesen Zettel gefunden:
die unsichtbaren Spuren einer geschlagenen Kindheit
Der Zettel liegt gerade neben mir. Ich habe heute meine Mutter besucht, sie liegt seit einem Jahr, nach leichtem Schlaganfall, in einem Heim und ich besuche sie in unregelmäßigen Abständen. Das hat Gründe, also, warum ich unregelmäßig dorthin fahre. Vorgeschoben sind die zeitlichen Themen – ich brauche gut 5 Stunden für die Fahrt, hin und zurück. Ein Besuch bei ihr sind circa 45 Minuten – danach ist sie erschöpft. Ich muss einen Tag Urlaub nehmen oder einen Tag an einem freien Wochenende opfern. Dazu kommt der finanzielle Aspekt, die 50 Euro für die Tankfüllung, das ist mir zu teuer. Meine Zeit plus mein Geld. Mein Invest.
Das klingt hart. Ich weiß, wie hart das klingt. Und doch ist es auch die Wahrheit. Es ist anstrengend, die weite Strecke zu fahren, um am Bett eines Menschen zu sitzen, den man gar nicht kennt. Der einem auch nicht mehr erzählen mag, was ihn ausmacht. Welche Träume sie mal hatte. Was schön war in ihrem Leben. Was schiefgegangen ist in ihrem Leben. Wieso sie heute sprachlos ist. Wieso sie schon seit Jahren sprachlos ist.
Ich habe den Kontakt während meiner depressiven Erkrankung abgebrochen. Auf Zetteln, die andere Menschen ausgefüllt haben, stand dann immer: Kontaktabbruch aus Selbstschutz
Der Kontakt hat mich zu sehr belastet, die unsichtbaren Spuren meiner geschlagenen Kindheit wurde sichtbar. Deutlich sichtbar. So sichtbar, dass ich die Augen schließen musste. Viele Dinge aus meiner Vergangenheit kamen hoch und wollten angesehen werden. In der Depression war das viel zu viel, hat mich überfordert, ich musste die Augen schließen. Den Kontakt abbrechen. Mich selbst schützen.
Das Gefühl, allein zu sein. Das Gefühl, immer wieder nach schlagenden Argumenten gesucht zu haben. Das Gefühl, nicht gut genug zu sein, um geliebt zu werden.
Ich bin erstaunt, dass es keine Zettel aus meiner depressiven Zeit gibt. Ich habe damals weniger geschrieben. Weder auf Zettel, noch hier, in diesem Blog. Vieles muss ich jetzt, im Nachgang, für mich selbst erinnern. Manches will ich gar nicht erinnern, weil es so traurig ist. Ich will auf die guten Dinge fokussieren. Meine Kindheit, mein Leben, es ist gelaufen, wie es ist.
Die Frage ist – wie ist es jetzt?
Jetzt. Jetzt ist es friedlich. Ich habe meinen Pflichtbesuch erledigt, und ich war erleichtert, als ich das Zimmer wieder verlassen konnte. Sie rührt mich an, ich habe Mitleid mit ihr. Mitleid mit ihrem Leben, dass sie niemals selbstbestimmt leben konnte. Es tut mir leid. Ich bin nicht mehr wütend, eher – traurig. Und erleichtert, wenn ich gehen kann. Wenn ich kurz an ihrem Bett saß und aufstehe und zurück gehe, in meine Leben voller Zettel, voller Emotionen und Gefühle. Voller Liebe.
Ich trage viele unsichtbare Spuren einer geschlagenen Kindheit. Ich verstehe, dass es Schläge aus Hilflosigkeit waren, ich verstehe, dass man dachte, das sei gut für mich. Ich verstehe auch, dass man heute denkt, sieh doch, wie gut dir das getan hat. Es ist schließlich was aus dir geworden.
Ich verstehe das. Und da ich es verstehen kann, kann ich auch verzeihen.
Und dennoch gibt es keine Ausrede dafür, Kinder zu schlagen, weder mit Gürteln noch mit Worten. Wenn wir hilflos sind, fremdbestimmt oder krank – dann können wir dennoch um Hilfe bitten. Es ist unsere verdammte Pflicht, uns Hilfe zu holen, wenn wir keine Kraft mehr haben. Es ist unsere verdammte Pflicht, uns zu reflektieren. Wir tragen die Verantwortung, für uns. Und für unsere Kinder. Wir dürfen Fehler machen – und wir dürfen lernen, wie man sich entschuldigen kann, aufrichtig und ehrlich. Ich wünsche mir, dass alle Menschen von klein auf lernen, sich zu reflektieren und gewaltfrei mit anderen Menschen zu kommunizieren. Das! Ist mein Wunsch.
Meine Kindheit wirkt bis heute, bis zu diesem heutigen Tag, und sie wird noch weiter wirken. Das, was ich erlebt habe und das, was mir gefehlt hat, es wiegt schwer. Ich sehne mich noch heute nach Nähe, nach bedingungsloser Liebe, danach, angenommen zu sein. Richtig zu sein. Genug zu sein. Ich lerne jeden Tag, mir diese Liebe selbst zu schenken. An einigen Tagen klappt es schon ganz gut. An anderen Tagen fühle ich mich leer und als stände ich ganz am Anfang meiner Reise. Dann nehme ich gerne ein paar dieser guten Zettel in die Hände, auf denen Dinge stehen wie – keine negativen Bewertungen mehr. Ich kümmere mich gut um mich.
Ja, das tue ich! Ich kümmere mich gut um mich. Und um meine Zettel. Ich hebe sie auf. Ich weiß noch nicht, wo, aber im Grunde ist das auch egal. Irgendwo, da, wo sie mir ab und an zufällig in die Hände fallen können. Um mich zu inspirieren, mich zu trösten, mir Mut zu machen.
Ich hoffe Eines. Dass ich den Kontakt zu meinen Kindern halten kann, über all die Jahre, die vor uns liegen. Damit sie am Ende meines Lebens neben meinem Bett sitzen und wissen, über was sie reden sollen. Damit ich weiß, was sie beschäftigt, was ihnen wichtig ist im Leben und wie es ihnen geht. Immer. Heute. Morgen. In der Zukunft. Auch das, und vor allem das, ist der Grund für all die Zettel. Und für all die Worte, die den Weg von den Zetteln in den Blog finden. Es ist mein Vermächtnis. Damit sie wissen, dass ich sie liebe, alle, so, wie sie sind. Auch wenn ich ab und an an ihnen ziehe, damit sie in eine (für meine Vorstellung) sinnvolle Richtung wachsen. Ich denke, das tun alle Eltern immer mal.
Ich ermutige meine Kinder. Fehler zu machen. Frei zu werden. Ihr Leben zu leben. Es ist endlich. Endlich schön!
Ich wäre so gern ermutigt worden, als Kind. Heute ist mein kleines, inneres Kind ein wenig müde und auch, ein wenig traurig. Morgen schreibe ich mir weitere mutmachende Dinge auf den nächsten Zettel. Heute bleibt nur – schlafen und neue Kraft tanken.
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