„Ich habe wenig Zeit“, sage ich zu meinem Physiotherapeuten.
Sein „Ich weiß!“ verblüfft mich. „Woher?“, will ich wissen.
“Ihr Körper erzählt es mir“ ist seine Antwort.
Verräter, mein Körper. Oder, Plappermaul. Der kann auch gar nichts für sich behalten!
Heute war meine erste Stunde mit dieser Heilmittelverordnung meines Zahnarztes. Manuelle Therapie für den Kiefer. Ein Kennenlernen zwischen Patientin und Physiotherapeut. Ein Hoffen, dass die Chemie stimmen möge, für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit.
Er fragt zu Beginn, seit wann ich das Problem mit meinem Kiefer habe. Ich bin unsicher, weil ich darauf keine passende Antwort finde. Es dünkt mir, ein „seit immer“ sei merkwürdig. Im Laufe der Behandlung findet er die Antwort selbst. Sein „schon sehr lange“ klingt tröstlich wie traurig gleichermaßen.
Verspannt. Blockiert. Eingeschränkt in meiner Bewegung. Verschmerzt. Schon sehr lange.
Ich konnte als Kind nicht hocken (ging nicht, bin umgefallen), ich konnte keine Seile hochklettern, nicht über den Bock durchhocken und meine Füße haben bei jedem Schritt geknackst. Ich konnte nie heimlich in die Küche gehen, um den Kopf in den Kühlschrank zu stecken. Weil, heranschleichen ging nicht. Stehen ging auch nicht, ich hatte schon mit 19 Schmerzen, wenn ich zu lange stehen musste. Deshalb wollte ich auch nie als Security auf Veranstaltungen arbeiten. Da war ich doch lieber Aushilfe im Catering.
Im Frühjahr dieses Jahres habe ich mir auf Kur vorgenommen, dass ich mich um die ein und die andere Schwachstelle meines Körpers kümmern will. Meinen Bauch. Die fehlende Kraft in der Mitte. Der Fuß tat da auch schon weh. Und die Knie, wenn ich Treppen steige. Schulter und Nacken stark verspannt. Und dennoch war ich – so glücklich, dass es mir gut geht! Neben Bewegung, die mir sehr gut getan hat, hatte ich auch Krankengymnastik, Massagen und Fango. Bei unterschiedlichen Therapeuten, die alle mit gleicher Stimme gesprochen haben.
„Sie sind schmerzfrei? Das ist ein Wunder!“
„Haben Sie überhaupt Bauchmuskeln?“
„Ihre Rückenmuskulatur ist wenig ausgeprägt.“
Nichts davon ist oder war neu für mich. Mitgenommen habe ich den Tipp, mit meinem Zahnarzt zu sprechen, mein Kiefer sei so verspannt. Es gäbe manuelle Therapie für den Kiefer. Und siehe da – damit habe ich gestern begonnen. Und es scheint, als sei der erste Schritt gut gelungen.
Und ja, ich habe wenig Zeit. Das hat mein Physiotherapeut richtig gelesen. Ich renne seit Jahren durch mein alleinerziehendes Vollzeitleben. Zeit ist nicht mein bester Freund. Arzttermine für und mit den Kindern sind Herausforderungen im Alltag, der sich rund um Betreuungszeiten der Kinder und Arbeitszeiten im Job dreht. Allein die normalen Termine, der Zahnarzt, die U beim Kinderarzt, die Vorsorge beim Frauenarzt. Das reicht mir im Grunde schon. Wenn dann noch jemand eingewachsene Fußnägel hat oder eine Brille braucht, komme ich durchaus an einen Punkt der Überforderung.
Terminchaos. Ich bin ja die letzten Wochen im Grunde täglich bei einem Arzt oder einer Nachsorgeuntersuchung. Total verrückt. Und in Teilen auch total traurig, weil, um den Halux rigidus wollte sich bisher ja niemand so recht kümmern. Mein Großzehengrundgelenk schmerzt mal mehr, mal weniger vor sich hin. Der Orthopäde hatte Einlagen für mich und schöne IGEL-Leitstungen wie Laser. Den Blick auf die Schmerzen im Knie über den funktionellen Schiefstand meines Beckens über die Verspannungen im Schulter-Nacken-Bereich waren ihm ehrlich gesagt Banane. Egal. Sie sind schmerzfrei? Fein. Da können sie noch ein wenig Geld bezahlen, für unsere schönen Zusatzbehandlungen. Ansonsten – tschüß.
Mein Physiotherapeut, den ich gestern direkt ins Herz geschlossen habe, war ein wenig verwundert und schwer schockiert. Tatsache ist, wenn wir nicht gerade sterben, behandelt uns niemand. Schon gar nicht vorsorglich. Wäre ja noch schöner!
Er macht jetzt Anamnese wie ich sie mir wünsche. Er schaut ganz genau hin. Wie lang ist welches Bein, wie liegen die Beine, in welchem Winkel stehen die Knie, wie bewegen sich die Beckenknochen, wenn ich mich nach vorne beuge, wie verhält sich mein Kiefer. Wo bin ich eingeschränkt. Ich bin tatsächlich sehr eingeschränkt, in vielen normalen Bewegungen. Ich kann mich auch nicht gut drehen, als, den Kopf zur Seite drehen. Ich bin irgendwie – ziemlich zusammengestaucht und ziemlich schwach.
Und liege so da und er erzählt und ich erzähle halt auch gleich alles. Weil, ich will mit diesem Mann arbeiten, der Physiotherapeut und Osteopath ist. Der die richtigen Fragen stellt. Der alles wissen will, und nicht nur auf den Kiefer schaut. Dem ich erzähle, dass ich vor zwei Tagen die Beauftragung für meine Traumatherapie abgenickt habe. Trauma zu therapieren, das beginnt jetzt. Das scheint ein wenig schicksalhaft. Weil ich im körperlichen ebenfalls jetzt beginne. Es scheint sich zu fügen.
Ich war als Kind schon sehr schwach, kaum Muskeltonus, keine Ausdauer, einfach – kaum lebendig. Nur, wenn ich getanzt habe, war ich da. Ansonsten eine 4- in Sport und damals, auch so mit 19, war ich zum ersten Mal im Fitnessstudio. Die Trainerin war verblüfft. Sie hätte noch nie jemand gesehen, der so wenig Kraft im Bauch hat. Tja. Irgendwann ist immer das erste Mal.
Für mich ist es gerade das erste Mal. Noch nie hat wirklich jemand hinschauen wollen, bisher. Vielleicht auch, weil ich noch nie bereit dazu war. Wer weiß. Vielleicht war auch immer zu viel akut, so dass man gar nicht in die Tiefe arbeiten konnte. Auch das, wer weiß. Jetzt jedenfalls – jetzt habe ich nächste Woche direkt die nächste Stunde und mache danach ein erstes Probetraining. Ich scheine gerade meinen nächsten Auftrag gefunden zu haben. Er heißt – mich stärken!
Ich bin gespannt, wie lange diese Euphorie anhalten mag. Ich spüre allerdings, die, und genau die, brauche ich jetzt. Und jemand, der sich auskennt, der die Zusammenhänge im Körper lesen und auf mich übertragen kann, der zuhört und die Seele mit hinein nimmt in die Körperarbeit. Ich habe ein paar Tränen vergossen, da, auf der Liege liegend und über meinen Körper sprechend.
Meinen Körper, der fünf Kindern das Leben geschenkt hat! Fünf wunderbare Geburten einfach so weggesteckt hat! Der tapfer mit mir geht und sehr selten Schmerzen schickt. Der immer da ist. Der sich immer für mich einsetzt. Ihn darf ich unterstützen, damit wir noch weitere 50 Jahre miteinander laufen.
Was die Zeit angeht, die jetzt passend erscheinen will. Natürlich habe ich tatsächlich sehr wenig Zeit. Aber. Ein weiteres Danke geht an meinen Arbeitgeber, der mir die Zeit gibt. Weil er weiß, falls er ein er ist, was das Wichtigste ist. Dass ich gesund bin. Daher kann ich all meine Arzttermine gut wahrnehmen, obwohl ich parallel in Vollzeit arbeite. Das ist ein Geschenk! Gerade scheinen viele Dinge sich als Geschenk getarnt in mein Leben zu schleichen. Ganz ohne knacksende Fußgelenke 😉
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